Denkanstoß "behindert und aussortiert"

Nachricht 16. Juni 2025

Erinnerungen an eine Kindheit im Heim

Klaus Brünjes erkrankte bereits als Kleinkind an Kinderlähmung und wuchs in den Rotenburger Anstalten auf, heute bekannt als Rotenburger Werke. Auf Einladung der Lebendigen Gemeinde erzählte er am Freitag, den 09. Mai im Rahmen der Reihe "Denkanstoß“ seine Lebensgeschichte. Die medizinischen Prognosen waren damals alles andere als hoffnungsvoll. Durch seinen außergewöhnlich starken Lebenswillen kämpfte er sich Schritt für Schritt in ein selbstbestimmtes Leben zurück. Heute blickt er auf zahlreiche persönliche Erfolge zurück - und viele wundern sich fast über seine meist gute Laune.

Im ersten Teil des Abends erzählte Klaus Brünjes seine Lebensgeschichte. Er kam im April 1958 als Zwilling in Langen bei Bremerhaven zur Welt. Kurz vor Weihnachten 1960 kam er mit seinem Bruder wegen Verwahrlosung und Unterernährung in ein  Kinderheim im Kreis Soltau. Dort erkrankte er aufgrund der schlechten Versorgung an Kinderlähmung und verbrachte deshalb die  nächsten Jahre bis Juni 1963 im Krankenhaus Debstedt.  Aufgrund seiner Lähmung wurde damals offiziell als „Krüppel“  eingestuft. Mit fünf Jahren kam er als Patient in die Rotenburger Anstalten. „Es gab sonst nirgendwo Platz für mich. Das Krankenhaus wollte mich loswerden und das Heim wollte keinen Krüppel aufnehmen.“ In den Anstalten schlief er zunächst auf einem Zustellbett in einem überfüllten Schlafsaal. Fotos von der Unterbringung zeigen Verhältnisse, die heute nicht mehr vorstellbar sind. In schweren Stunden habe ihm immer der Glaube geholfen. Diese Hilfe spüre er noch heute: „Der Herrgott und ich  wohnen hier fröhlich unter einem Dach.“ Und er hat schon als Kind nie aufgegeben. Er schaffte das, was er sich vorgenommen hatte. 1981 bis 1983 machte er seinen Hauptschulabschluss in einem  Abendkurs. Kurz darauf meisterte er trotz seiner Behinderung die Führerscheinprüfung. 1989 folgte eine anderthalbjährige Ausbildung, mit der er sich für seine Position als Gruppenleiter qualifizierte. Nur fünf Jahre später hatte er ausreichend Geld angespart, um den Bau seiner Doppelhaushälfte in Rotenburg zu finanzieren. „Ich wollte immer ein Teil der Gesellschaft werden. Ich  wollte mir mein Brot selbst verdienen.“

Im zweiten Teil des Abends erzählte Klaus Brünjes von seiner Archivtätigkeit für die Rotenburger Werke und deren Geschichte. Tausende Fotos hat er selbst geschossen. Er kann die Geschichte  aus seiner eigenen Sicht erzählen und hat sie für die Nachwelt  aufgeschrieben. Von 1880 bis 1905 nannte sich das Haus „Asyl für  Ausfallkranke“. Dann, mit der Aufnahme der ersten sogenannten  "schwachsinnigen Kinder“ bis 1930 „Asyl für Ausfallkranke und  Idioten“. Anschließend trug die Einrichtung bis 1996 den Namen  "Rotenburger Anstalten“. Die Erziehung von Behinderten könne man heute nicht mit der Situation vor 50 Jahren vergleichen, machte er deutlich. „Ich war nie Bewohner, sondern ein Patient. So habe ich mich gesehen. Meine Nummer  war 338 ... so war das nun einmal damals.“ Schon erschreckende Aussagen von jemandem, der so etwas selbst erlebt hat.

Abschließend gibt er bekannt: „Bücher über verschiedene Anstalten gibt es viele. Aber immer über uns und nie von uns. Das will ich ändern und schreibe an einem Buch. Einen Verleger habe ich schon gefunden“. Seine selbstverständlich erzählte Lebensgeschichte führte in Blender zu Staunen über seine offenen und ehrlichen Schilderungen und zu Respekt vor seinem Lebensmut.

 Text & Foto: Heiner Albrecht